Zukünfte am Ende des Kalten Krieges

Projektinhalte

Das Jahr 1989/90 gilt als Zäsur: Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand die bipolare Weltordnung, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmt hatte, und zugleich nahm eine fast beispiellose sozioökonomische Transformation in den Gesellschaften Ostmitteleuropas ihren Lauf. Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat das Ende des Kalten Krieges zum einen im Hinblick auf Faktoren des weltpolitischen Umbruchs diskutiert, zum anderen ökonomische und soziale Wandlungsprozesse und ihre Folgen beleuchtet.

Das Projekt „Zukünfte am Ende des Kalten Krieges“ hingegen richtet den Blick auf die Interaktion von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten in einer Zeit beschleunigter, ja dramatischer Veränderungen. Untersucht werden individuelle und kollektive Zukunftsentwürfe, ihre diskursive und emotionale Aneignung und die damit verbundenen Praktiken der Ausgestaltung, Planung oder Erhaltung der Zukunft in einer dynamischen Umbruchszeit, in der vieles möglich und erhoffbar schien. Das Projekt leuchtet nicht nur Zukunftsvorstellungen sui generis aus, sondern fragt nach deren Funktion, Wirkung und Verbindung mit konkretem Zukunftshandeln von Akteurinnen und Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Der Untersuchungszeitraum reicht von 1987/88, als KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen Haus Europa“ sprach und vor der UN-Vollversammlung eine „neue Weltordnung“ ankündigte, bis zum ersten Abschluss der sozioökonomischen Systemtransformation in Deutschland 1993/94 und zur Verkündung des Development Programme der Vereinten Nationen 1994, ohne dass die Teilprojekte längerfristige Wirkungsprozesse außer Acht lassen.

Ziel des Projekts ist es, nicht nur Zukunftsszenarien, Hoffnungen und Ängste mit ihren entsprechenden Funktionalisierungen in der Zeit des Umbruchs auszuleuchten. Ebenso will das Projekt einen Beitrag dazu leisten, mit dem Blick auf damalige Zukünfte und ihre Wirkungen aktuelle politische Polarisierungen – in den internationalen Beziehungen, im deutsch-russischen Verhältnis sowie in der politischen Kultur West- und Ostdeutschlands – einordnen zu können.

Das Projekt besteht aus drei Teilprojekten, die Akteure aus den USA, Deutschland und der Sowjetunion bzw. Russland fokussieren.

Teilprojekt I

New World Order? US-amerikanische und bundesdeutsche Zukünfte am Ende des Kalten Krieges, 1988-1994

Bearbeiter: Dr. Peter Ridder

Das von Peter Ridder bearbeitete Projekt untersucht Zukunftsvorstellungen und Zukunftshandeln der US-amerikanischen und bundesdeutschen Regierungen im weltpolitischen Umbruch zwischen 1988 und 1994. Wie veränderte das Ende des Kalten Krieges den Blick in Washington und Bonn auf das internationale System im Allgemeinen und die jeweilige Rolle der beiden Bündnispartner im Besonderen? Im Zentrum stehen interne Debatten der Exekutive sowie Expertendiskurse zur künftigen UN-Politik beider Staaten. Die Themen Demokratie und Menschenrechte bilden dabei die Linse, mit der Erwartungen, Konzepte und Praktiken der Akteure sichtbar gemacht werden sollen. Beide Politikfelder waren zentrale Aspekte der 1990 von George H. W. Bush verkündeten „New World Order“ und manifestierten sich (u.a.) in der Agenda for Peace der Vereinten Nationen 1992, auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 und im UN-Development Program von 1994. Zugleich bündelten sich in den Debatten um Demokratie und Menschenrechte normative Dimensionen einer „New World Order“, Erwartungen, Hoffnungen und Ängste mit Blick auf mögliche Zukünfte jenseits des Kalten Krieges.

Teilprojekt II

Zukünfte am Ende des Kalten Krieges. Nationales Selbstverständnis im deutsch-deutschen Transformationsprozess, 1989-1995

Bearbeiterin: Helena Gand

Die deutsche Wiedervereinigung wurde in Ost und West von unterschiedlichen Erfahrungen und demzufolge spezifischen Erwartungen an die künftige Einheit begleitet. Das von Helena Gand bearbeitete Dissertationsprojekt untersucht Zukunftsentwürfe und -praktiken im deutsch-deutschen Transformationsprozess zwischen 1989 und 1995. Diese dynamische Phase des Umbruchs war in weiten Teilen Deutschlands zunächst geprägt von der Euphorie und Hoffnung auf ein freies, demokratisches Leben und eine reformierte DDR während der Friedlichen Revolution. Schon bald jedoch folgten – verstärkt durch einsetzende wirtschaftliche Umwälzungen in der DDR, wachsende Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und rassistische Ausschreitungen – Emotionen wie Angst und Enttäuschung während des Vereinigungsprozesses – nicht nur in Ost-Deutschland. Die Bestrebungen der sich neu formierenden Bundesrepublik Deutschland nach einem angemessenen Platz auf internationaler Ebene korrelierten mit der Suche nach der "inneren Einheit" der deutsch-deutschen Übergangsgesellschaft.

Das Dissertationsprojekt fokussiert auf die Frage nach der Konstituierung eines neuen nationalen Selbstverständnisses der Deutschen. Die Arbeit wählt einen emotionsgeschichtlichen Zugriff, indem sie Ängste, Hoffnungen und ihre Gegenbilder, Erleichterung und Enttäuschung, herausarbeitet, um sich Wahrnehmungen und Verarbeitungsprozessen der Umbruchsituation in der deutschen Bevölkerung anzunähern. Dazu sollen anhand verschiedener Akteursgruppen aus Politik, Medien und Gesellschaft (teil-) öffentliche Diskurse zu Zukunftserwartungen und Konzepten hinsichtlich einer gesamtdeutschen Identität bzw. der Vereinigung von Pluralität in Deutschland analysiert werden.

Das Projekt wurde gefördert durch die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Teilprojekt III

Erwartungen und enttäuschtes Vertrauen? Deutsch-sowjetische/russische Kulturbeziehungen in der Transformationsphase

Bearbeiterin: Susanne Maslanka

Die von Michail Gorbatschow eingeleitete Politik der Perestrojka und Glasnost‘ führte in der Bundesrepublik Deutschland zu hohen Erwartungen an das zukünftige Verhältnis zur Sowjetunion. Die Hoffnung auf eine positive Entwicklung der Zusammenarbeit verstärkte sich im Zuge der Wiedervereinigung. In der euphorischen Atmosphäre, die das Jahr 1990 prägte, wurde ein umfangreiches bilaterales Vertragswerk beschlossen. Neben sicherheits- und wirtschaftspolitischen Aspekten umfasste es auch Fragen der kulturellen Zusammenarbeit, auf die die Studie fokussiert. 

Das von Susanne Maslanka bearbeitete Dissertationsprojekt geht der Frage nach, inwieweit die anfängliche Aufbruchsstimmung in der politischen Praxis sukzessive in wechselseitiges Unverständnis und Misstrauen umschlug. Im Zentrum stehen deutsch-sowjetische/russische Projekte der kulturellen Zusammenarbeit und die Verhandlungen um die Rückführung von Kulturgütern vor dem Hintergrund der sich eintrübenden sicherheitspolitischen Beziehungen in den 1990er Jahren. Untersucht werden dabei Diskurse, Akteurinnen und Akteure sowie Praktiken auf diplomatischer, kulturpolitischer und gesellschaftlicher Ebene in Deutschland und Russland.

Das Projekt ist Teil des von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) organisierten und von der Leibniz-Gemeinschaft finanzierten Verbundprojekts Drifting Apart: International Institutions in Crisis and the Management of Dissociation Processes.